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Sommer im Tessin

Ich war ein wildes aber sensibles Kind mit langem blondem Haar, welches, von Wind und Wasser zerzaust und von der Sonne gebleicht, unordentlich in mein Gesicht fiel.

 

Meine Eltern waren sehr mit sich beschäftigt und insbesondere meine Mutter hasste alle Anstrengungen, die nicht unmittelbar ihr galten. Die ersten fünf Jahre wuchs ich ohne Geschwister auf und als dann eine Schwester geboren wurde, war die so krank und schwächlich, dass sie der alleinigen Aufmerksamkeit meiner Mutter bedurfte.

 

Es war für alle Beteiligten eine Erleichterung, als die kinderlose Schwester meines Vaters ihr Hotel in Schaffhausen verkaufte und mit diesem Erlös und der Erbschaft eines verstorbenen Liebhabers, sich ein Domizil im Tessin zulegte.

 

So fuhr ich das erste Mal im Alter von vier Jahren, mit meinen ebenfalls vierjährigen und sechsjährigen Cousins mit dem Zug nach Bellinzona.

 

Die Eltern hatten uns aufgetragen die Tunnels zu zählen. Ich erinnere mich tatsächlich noch an das gleichmäßige Rattern der Räder auf den Schienen und das unheimliche Gefühl, wenn sich das Abteil im Zug verdunkelte und nur die flackernden Lampen der Deckenbeleuchtung Schatten auf die, zum Greifen nahen, kargen Felswände warfen, während der Zug sich durch den Tunnel schob.

 

Sie nahmen kein Ende. Nach jeder Kurve verdunkelte sich das Abteil erneut. Ich konnte meinen Auftrag nicht erfüllen, ich hatte schon sehr früh die Anzahl der Tunnel vergessen. Zu sehr übermannten mich die Gefühle und die Angst, die sich in meiner kleinen Brust eingenistet hatte, blockierte mich zusätzlich. Außerdem konnte ich noch gar nicht so weit zählen.

 

Klein und ausgeliefert saß ich auf meiner Bank, gegenüber die Cousins, denen es auch nicht besser ging, als der Zug plötzlich durch den letzten Tunnel in eine neue Welt fuhr. Nie werde ich den Moment vergessen, als wir die grauen Felswände verließen und sich die Sonne, der blaue Himmel, Licht, Luft, Helligkeit und Wärme vor uns auftaten.

 

Bellinzona, der kleine Bahnhof voller sommerlich gekleideten Menschen, freudige Stimmen, Blüten, Wärme und Tante Hanna, die uns durch das geschlossene Zugfenster zuwinkte, an ihrer Seite Bessie die Kurzhaar Dackel Dame, schwarz mit Brand.

 

Vom Schatten ins Licht! Mein Rhythmus im Leben! Diese frühe Erfahrung sollte zu meinem Lebensgrundsatz werden.

 

Und von nun an war ich nie mehr alleine!

 

Das Haus meiner Tante stand in einer kleinen aber feinen Neubausiedlung in Origlio.

 

Das Dorf Origlio lag eigentlich auf der anderen Seite des Origlio Sees, hatte eine Trattoria, in die wir nie gingen, bissige Schwäne am See, eine Kirche zu der man erst einen sehr steilen Berg hinaufgehen musste und zwei Reitställe.

 

Wenn ich morgens früh in meinem viel zu großen Bett aufwachte fühlte ich mich fremd und einsam. Dort konnte ich nicht bleiben, also stand ich auf und ging leise, um die anderen nicht zu wecken, in Unterhose und T-Shirt in das Wohnzimmer.

 

Sobald Bessie mich bemerkte, streckte sie sich und kugelte sich in ihrem Körbchen auf den Rücken. Damit signalisierte sie mir, dass sie nun bereit für eine Streicheleinheit war.

 

Ich spürte Trost, wenn meine Hand das Fell und den schlafwarmen Körper des Hundes berührte. Wir beide genossen diese Augenblicke der ungestörten Zweisamkeit bis die Sonne und das Licht uns nach draußen riefen.

 

Die Morgensonne erwärmte die Wände auf der Ostseite des Hauses so früh, dass morgens, wenn ich die Haustüre öffnete, die scheuen Salamander schnell davonflitzen. Ich setzte mich auf die Stufe der Haustüre und Bessie räkelte sich auf meinen Füßen und der Fußmatte. Ich erzählte ihr was mich bewegte, während sie träge in der Morgensonne weiter döste und die Salamander vorsichtig wieder an ihren Platz auf der Hauswand zurückkehrten.

 

Jeder Morgen folgte dem selben Ritual. Irgendwann kam meine Tante aus ihrem Zimmer, ging in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee, die sie mit ans Bett nahm. Ich schlüpfte zu ihr unter die Decke. Der Kaffeeduft und ihr nach Kaffee riechender Atem prägten mich so sehr, dass ich heute noch jeden Tag mit einer Tasse Kaffee im Bett beginne.

 

Genau genommen waren diese Minuten im Bett der Tante eine der wenigen Gelegenheiten, in denen mir Zuneigung entgegengebracht wurde.

 

Später ging es an den kleinen See. Mit Badeanzug, Bademantel und roten Gummi Flip-Flops gingen wir über die kleine Straße, auf der pro Stunde ein Auto fuhr, über eine große Wiese, mit wilden Blumen und Gräser an den See.

 

Dort lernte ich schwimmen. Meine Tante zeigte mir die Bewegung und begleitete mich. Wenn ich nicht mehr konnte, durfte ich mich an ihrem Bikinioberteil festhalten. Wir schwammen jeden Morgen über den See. Meine faulen Cousins meist auf ihrer Luftmatratze.

 

Bessie zog es vor an Land zu bleiben. Sie vertrieb sich die Zeit auf ihre Weise. Sie buddelte nach Mäusen und vertrieb die Wildenten vom Ufer. Erblickte sie eine Katze am anderen Ufer, rannte Bessie um den See anstatt zu schwimmen. Ihre Wasserscheue war stärker als ihr Hass auf Katzen, der durchaus ausgeprägt war. Erkannte die Katze die nahende Gefahr nicht frühzeitig lieferten sich Hund und Katz eine wilde Jagd.

 

Ein weiteres sommerliches Ritual war es Wassermelone zu essen. Dafür setzten wir uns um den kleinen Brunnen im Garten, der dem Tessiner Haus seinen Namen gab: La Fontanella!

 

Wir saßen auf den Steinen um La Fontanella herum, die Beine im Wasser, zwischen den blühenden Seerosen baumelnd.

 

In meiner Erinnerung scheint im Tessin immer die Sonne und komme ich heute an einen Teich mit Seerosen werde ich melancholisch. Die Sehnsucht nach Sonne, Wärme und das unbeschreibliche Gefühl einer Kindheit, die einem ein besonderes, leichtes Leben verheißt.

 

Abends machten wir uns ausgehfein! In einem leichten Sommerkleid und roten Ledersandalen hüpfte ich neben meiner Tante den Weg um den See entlang. Die mit vielen, bunten Glühbirnen und Lampions geschmückte Trattoria fasziniert mich. Neugierig blickte ich hinauf und versuchte einen Blick auf die Lebensfreude der Tessiner zu werfen. Ich war enttäuscht, dass wir nie dort hineingingen, aber meine Tante hielt eine abendliche Trattoria nicht für den richtigen Ort, für ein kleines Kind. Heute kann ich sie sogar verstehen. Direkt nach der erhöht liegenden Trattoria führte uns der Weg wieder an den See zu einem Holzsteg an dem die sehr kleinen Fischerboote festgezurrt waren. Um den See schwammen jeden Abend viele elegante Schwäne.

 

Besonders mystisch wirkten die schwarzen Schwäne, die in einer großen Zahl sich den Platz mit ihren weißen Artgenossen teilten. Erst kürzlich führte ich ein Gespräch mit jemandem, der noch nie einen schwarzen Schwan gesehen hatte und nicht glauben konnte, dass es diese gibt. Reiche Tessiner Kindheit.

 

Der Dackel Bessie, der mich begleitete, tröstete und mir das Gefühl gab beschützt zu sein, kam als erster Hund in mein Leben. Weitere sollten folgen und nach wie vor ist ein Leben ohne Hund für mich nicht vorstellbar. Schöne Ereignisse und persönliche Krisen erlebte ich zusammen mit meinen Hunden. Sie erdeten und erfreuten mich und weilten unerschütterlich an meiner Seite.

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